Nachfolgend haben wir einen Beitrag von Herrn Dr. Matthias Walle veröffentlicht, der sich mit der psychiatrischen Versorgung in Niedersachsen und somit natürlich auch in unserer Region befasst.
Herr Dr. Walle ist als niedergelassener Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie in Hemmoor für die Versorgung der psychiatrischen Patienten in unserer Region mit verantwortlich. Er hat die integrierte Versorgung als "niedersächsischen Weg" mit auf den Weg gebracht und ist in zahlreichen Gremien aktiv.
Zahlen, Daten und Fakten zur psychiatrischen Versorgung in Niedersachsen
Die psychiatrische Versorgung in Deutschland unterliegt seit Jahren einer stetigen Veränderung, was zu erheblichen Anforderungen an die psychiatrischen Institutionen innerhalb des sozialpsychiatrischen Verbundes führt.
Obwohl die Morbidität psychischer Erkrankungen bis auf die gerontopsychiatrischen Störungen nicht sicher ansteigt, ist der Behandlungs- und Versorgungsbedarf in den letzten Jahren stetig angestiegen. Dies liegt zum einen an verbesserten Behandlungsmöglichkeiten für viele psychische Erkrankungen – hier seien insbesondere die sich zahlreich entwickelnden psychotherapeutischen Methoden genannt - zum anderen werden psychische Erkrankungen im Vergleich zu früher frühzeitiger und gezielter diagnostiziert.
In Zeiten begrenzter Ressourcen durch eine zunehmende Alterung der Bevölkerung und einen gerade im ländlichen Raum anwachsenden Fachkräftemangel muss sich die psychiatrische Versorgung den Herausforderungen immer besserer Diagnostik- und Behandlungsinstrumentarien stellen. Dies wird nur durch eine Vernetzung der unterschiedlichen Versorgungsangebote und sich dadurch entwickelnde Synergien möglich sein.
Interessant ist in diesem Zusammenhang die Entwicklung der unterschiedlichen Versorgungsbereiche in Niedersachsen in den letzten 10 Jahren, die in der Folge dargestellt werden soll:
Die Anzahl der psychiatrischen Klinikbetten inkl. Tagesklinikplätze ist in Niedersachsen wie auch in anderen Bundesländern weitgehend konstant geblieben, wobei der Anteil tagesklinischer Plätze in der Relation zunimmt. Ausnahmen bildet die kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung, deren stationärer Anteil ansteigt. Die durch die von psychiatrischen Kliniken betriebenen psychiatrischen Institutsambulanzen (PIA) behandelten Patienten haben sich im Erwachsenenbereich von 2005 auf 2010 fast verdoppelt, im Bereich KJP sind die Behandlungsfälle nur leicht angestiegen (siehe auch Tabelle, Quelle GMK-Konferenz 2012). Dies deutet auf eine allmähliche Ambulantisierung ehemals stationärer Leistungen hin, wie sie vielfach gefordert wird. In der KJP werden die Defizite einer früheren Unterversorgung schrittweise aufgeholt.
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2000 |
2005 |
2010 |
Anzahl Betten Psychiatrie inkl. TK |
5.288 |
5.330 |
5.484 |
Anzahl Betten KJP inkl. TK |
591 |
721 |
864 |
Anzahl Behandlungs-fälle PIA Erwachsene |
nicht erhoben |
57.654 |
109.712 |
Anzahl Behandlungs-fälle PIA KJP |
nicht erhoben |
23.241 |
28.734 |
Demgegenüber haben sich im ambulanten Versorgungsbereich sehr unterschiedliche Entwicklungen gezeigt. Während die Anzahl der psychologischen Psychotherapeuten in Niedersachsen stetig angestiegen ist, sanken die Anzahl der ärztlichen Psychotherapeuten und die Gesamtzahl der zur Verfügung stehenden Psychotherapeuten von 2000 bis 2010. Zudem gibt es mit leicht absinkender Tendenz immer weniger Psychiater/Nervenärzte. Dies erstaunt umso mehr, da fast an allen Orten in Niedersachsen über lange Wartezeiten für die ambulante psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung geklagt wird. Eine Ausnahme bildet der Bereich KJP, in dem sowohl die Anzahl der spezifischen Psychotherapeuten als auch die Anzahl der Kinder- und Jungendpsychiater ansteigt (siehe auch Tabelle, Quelle GMK-Konferenz 2012). Entgegen des Trends einer sich verschlechternden ambulanten Versorgung hat sich in Niedersachsen mittlerweile ein flächendeckendes Netz für ambulante psychiatrische Pflege entwickelt, welches es in dieser Form in einem Flächenland in Deutschland nicht gibt.
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2000 |
2005 |
2010 |
Fachärzte für Psychiatrie, Nervenärzte |
400 |
395 |
389 |
psychologische Psychotherapeuten |
920 |
1.006 |
1.103 |
ärztliche Psychotherapeuten |
918 |
793 |
474 |
Psychotherapeuten gesamt |
1.838 |
1.799 |
1.577 |
Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie |
43 |
63 |
77 |
KJP-Psychotherapeuten |
220 |
260 |
372 |
ambulante psychiatrische Pflege |
2 |
6 |
27 |
Demgegenüber hat sich der Bereich der Eingliederungshilfe und der Bereich Arbeit und Beschäftigung in den letzten 10 Jahren in erheblichem Maße ausgebaut. Neben einer deutlichen Steigerung ambulanter Eingliederungshilfeplätze stieg auch die Anzahl stationärer Bewohner in psychiatrischen Heimeinrichtungen. Dies läuft dem Trend in anderen Bundesländern zum Teil deutlich entgegen, wo wir insbesondere im stationären Bereich einen oftmals kontinuierlichen Bettenabbau beobachten können (siehe auch Tabelle, Quelle GMK-Konferenz 2012). Auffällig sind die stark steigenden Plätze für psychisch kranken Menschen in Werkstätten für behinderte Menschen. Demgegenüber steigt die Zahl der betreuten Menschen in Integrationsfachdiensten, Berufsbildungswerken und Rehabilitationszentren (RPK) nur leicht. Offensichtlich verbleiben mehr und mehr Menschen mit psychischen Erkrankungen in dafür eingerichteten Werkstätten, ohne dass ihnen die Integration in den ersten Arbeitsmarkt gelingt. Diese Entwicklung ist ebenfalls niedersachsenspezifisch und findet sich in dieser Form nicht in anderen Bundesländern.
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2000 |
2005 |
2010 |
Anzahl Teilnehmer ambulant betreutes Wohnen |
nicht erhoben |
2.260 |
11.331 |
Anzahl Plätze Tagesstätte |
605 |
853 |
1.227 |
Anzahl Plätze psych. Wohnheim |
3.408 |
4.931 |
5.927 |
Anzahl Plätze WfbM (nur Psychiatrie) |
1.724 |
3.087 |
4.316 |
Anzahl Plätze IFD, BBW, RPK |
nicht erhoben |
1.043 |
1.355 |
Alles in allem bilden sich im Landkreis Stade die Entwicklungen in Gesamtniedersachsen ab. Es sind auch hier alle wesentlichen Behandlungs- und Unterstützungsangebote vorhanden. Über die Entwicklung der einzelnen Versorgungsbereiche liegen keine öffentlichen Zahlen vor.
Integrierte Versorgung
Integrierte Versorgungssysteme versuchen die im deutschen Versorgungssystem vorhandene strikte Sektorisierung der einzelnen Leistungsbereiche zu überwinden. Sie beziehen sich im Wesentlichen auf Leistungen innerhalb des SGB V, also auf die medizinische Versorgung.
Gerade die psychiatrische Versorgung bietet sich für Integrierte Versorgungssysteme an. An der Behandlung von schweren und chronischen psychiatrischen Behandlungsverläufen sind oftmals unterschiedliche Berufsgruppen und Leistungssektoren beteiligt. Diese gilt es innerhalb einer Behandlung abzustimmen und zu integrieren.
In der Psychiatrie gibt es in Deutschland eine Vielzahl integrierter Versorgungsprojekte. Im Wesentlichen habe alle das Ziel, ambulante Behandlungsmöglichkeiten zu verbessern, um stationäre Behandlungen zu ersetzen. Dazu wurden in Niedersachsen in den letzten Jahren zahlreiche ambulant ausgerichtete Versorgungsnetze etabliert, welche den schwer und chronisch psychisch erkrankten Menschen ein ambulantes Komplexangebot machen. Ziel ist eine verbesserte Abstimmung der Behandlung durch Netzwerkregeln und regelmäßige Behandlungskonferenzen und die Ersetzung stationärer Behandlungen durch schonendere Behandlungseingriffe wie Hometreatment.
Ausgehend von Modellprojekten in der Region Kehdingen und angrenzenden Bereichen im Landkreis Cuxhaven mit der AOK Niedersachsen hat sich im Landkreis Stade und in ganz Niedersachsen mittlerweile ein flächendeckendes System der Integrierten Versorgung etabliert. Dazu sind mit zahlreichen Krankenkassen Verträge abgeschlossen worden, die betroffenen Patienten ein zusätzliches Leistungsangebot gegenüber der Regelversorgung anbieten. Patienten mit schweren psychischen Erkrankungen können sich nach Beratung mit ihrem Facharzt in die Integrierte Versorgung einschreiben. Sie erhalten dann einen so genannten Bezugstherapeuten, in der Regel eine ambulante psychiatrische Pflegekraft, die sie innerhalb der Integrierten Versorgung und an den Schnittstellen zu anderen Versorgungsbereichen begleitet. Bei Bedarf können Behandlungsmaßnahmen intensiviert werden, so dass Krisensituationen schonend im häuslichen Umfeld bewältigt werden können. Jeder eingeschriebene Patient hat die Sicherheit eines Krisendienstes, der 24h/7d erreichbar ist. Im Bedarfsfall können Angehörige in die Behandlung einbezogen werden. Der Bezugstherapeut arbeitet eng mit dem Facharzt des Patienten zusammen. Beide tauschen sich in regelmäßigen Behandlungskonferenzen aus. Sollte trotz aller ambulanter Behandlungsbemühungen doch ein stationärer Aufenthalt erforderlich werden, kann der Bezugstherapeut den Patienten auch während des Klinikaufenthaltes begleiten. Facharzt und Bezugstherapeut helfen bei der richtigen Auswahl weiterer Hilfsmaßnahmen wie Eingliederungshilfe und Rehabilitation und können bei Bedarf auch geeignete stationäre Einrichtungen auswählen.
Integrierte Versorgung nach dem oben skizzierten „niedersächsischen Weg“ ist in vielfältiger Form wissenschaftlich untersucht worden. Die Ergebnisse sind beeindruckend. Die Behandlung wird qualitativ besser, Patienten sind spürbar zufriedener und die Versorgung insgesamt wird preisgünstiger. Und nicht zuletzt profitieren Leistungserbringer durch eine höhere Arbeitszufriedenheit.© Landkreis Stade
Dr. Matthias Walle
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
Geschäftsführer der Zentrum für Sozialpsychiatrie und Nervenheilkunde am Ostebogen GmbH
Geschäftsführer der IVPNetworks, Managementgesellschaft für psychiatrische Versorgung
Stimmberechtigtes Mitglied des Landesfachbeirates Psychiatrie des Landes Niedersachsen